Arbeiterkind - na und?
Die Eltern von Alice Föllner und Kerstin Bruns sind keine Akademiker. Studieren war für beide alles andere als selbstverständlich. Aber deshalb auf eine akademische Ausbildung verzichten? Auf keinen Fall.
Die Eltern von Alice Föllner und Kerstin Bruns sind keine Akademiker. Studieren war für beide alles andere als selbstverständlich. Aber deshalb auf eine akademische Ausbildung verzichten? Auf keinen Fall. Ihr Wirtschaftsstudium meistern sie auch ohne finanzielle Unterstützung aus dem Elternhaus. Dabei schreiben die Deutschlandstipendiatinnen nicht nur Bestnoten, sie engagieren sich auch noch bei der Initiative "ArbeiterKind.de".

Für Alice Föllner und Kerstin Bruns spielt das Elternhaus keine Rolle. Zumindest nicht, wenn sie in der Jade Hochschule in Wilhelmshaven in ihrer Sprechstunde sitzen und andere Studierende mit Blick auf finanzielle Fördermöglichkeiten beraten. "Es gibt so viele verschiedene Fördertöpfe, die meisten wissen nur nicht, wie man da rankommt", erklärt Bruns. Genauso erging es ihnen auch am Anfang.
"Vor dem Studium habe ich viel über Fördermittel recherchiert und mir alles selbst angelesen, meine Eltern konnten mir da nicht helfen", erzählt Alice Föllner. Bei ihrer Recherche stieß sie auf die Internetseite www.arbeiterkind.de – und damit auf das dahinter stehende Unterstützungsnetzwerk für Kinder aus bildungsfernen Familien. Die Informationen haben ihr unter anderem geholfen, BAföG zu beantragen. "Ich fand die Initiative toll. Und als ich dort gelesen habe, wie wenige Kinder ohne akademisches Elternhaus den Weg an die Uni schaffen, hatte ich sofort Lust, mitzumachen", erzählt Föllner.
Zeit für ein Ehrenamt
Kennen gelernt haben sich die Freundinnen am ersten Tag des Studiums, gleich in der Einführungsveranstaltung. Beide studieren ein wirtschaftswissenschaftliches Studienfach an der Jade Hochschule in Wilhelmshaven, einer Fachhochschule. "Wegen der Praxisnähe", betont Föllner. Ihr Studium finanzieren die jungen Frauen über BAföG – und das Deutschlandstipendium. "Das Stipendium ist eine große Entlastung, dadurch können wir unser Studium in der Regelzeit abschließen", sind sich die beiden sicher. Daneben bleibt sogar noch Zeit für ein Ehrenamt: Nach dem ersten Semester fand Föllner eine lokale Gruppe von "ArbeiterKind.de" in der Nähe und ging mit Bruns zu einem Infoabend. Mittlerweile sind die Studentinnen im fünften Semester und beraten andere Studierende. "Es ist schön, sich zu engagieren, man kann mitgestalten und anderen Leuten mit der eigenen Lebenserfahrung helfen", schwärmt Bruns.
Eine andere Welt
Regale voller Bücher, auf dem Tisch ein Stapel Zeitungen, beim Essen ein Gespräch über Politik – so etwas kannten die beiden von zu Hause nicht. Föllners Vater ist Kraftfahrer, ihre Mutter arbeitet über eine Zeitarbeitsfirma als Produktionsgehilfin. Wusste sie beim Lernen auf dem Gymnasium nicht weiter, war sie auf sich gestellt. Zum Glück hatte sie eine Lehrerin, die sie förderte und mit Büchern versorgte. "Die hab’ ich verschlungen", erinnert sich die 22-Jährige aus Ostfriesland. Schon in der Grundschule war sie eine sehr gute Schülerin. Auch Bruns hatte immer sehr gute Noten. Sie hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie ihre Freundin. Bei Mitschülern aus Akademikerfamilien war es für sie wie in einer anderen Welt: Klassik, Kunst und ein ganz anderer Umgangston. Ihr Vater ist Tischler, die Mutter gelernte Hauswirtschaftsgehilfin. "Meine Eltern haben mich so gut sie konnten unterstützt, aber bei den Hausaufgaben helfen konnten sie irgendwann nicht mehr", sagt sie.
Stolze Eltern
Fremd haben sie sich an der Jade Hochschule Wilhelmshaven/Oldenburg/Elsfleth allerdings nie gefühlt: "Vielleicht wäre das an einer klassischen Uni anders", vermuten die beiden Studentinnen. Nur manchmal, wenn sie ihren Familien vom Studium erzählen, merken sie, dass sie sich weiterentwickelt haben. Die Eltern können nicht immer nachvollziehen, was ihre Töchter erleben. Aber stolz sind sie allemal. "Als ich den positiven Bescheid für das Deutschlandstipendium bekommen habe, hat sich meine Mutter riesig für mich gefreut", erzählt Bruns.
Auch dass sie sich jetzt für andere einsetzen, beeindruckt zu Hause. Nicht nur an sich, auch an andere denken – das ist gelebte Solidarität. Die Idee zu der Fördersprechstunde hatten die Wirtschaftsstudentinnen selbst – gemeinsam mit dem Fachbereich Wirtschaft. Rückendeckung für ihre Arbeit bekommen sie von der Hochschule. Eingeladen ist dabei jeder, der Orientierung im Finanzierungsdschungel sucht – selbstverständlich ganz unabhängig von der familiären Herkunft.